romanische Skulptur: Monsterwesen an Kapitellen und Portalen

romanische Skulptur: Monsterwesen an Kapitellen und Portalen
romanische Skulptur: Monsterwesen an Kapitellen und Portalen
 
Nachdem man die bildnerischen Leistungen der Romanik im 19. Jahrhundert vor allem als Abweichung vom Antikenideal negativ angesehen hatte, setzte sich am Anfang des 20. Jahrhunderts - gleichzeitig mit der Neuentdeckung anderer »primitiv« erscheinender Ausdrucksformen - eine ästhetische Neubewertung durch. Das Schlagwort vom »Expressionismus« romanischer Skulptur beinhaltet zugleich eine Auswahl: Gesucht wurde starker Ausdruck, Wildheit, Reduktion und Abstraktion der bildnerischen Mittel. Staunend registrierte man aber auch ganz andere Tendenzen bildnerischen Schaffens in romanischer Zeit - die intensive Antikenrezeption (etwa die Protorenaissance in der Provence, besonders der Portale der Abteikirche von Saint-Gilles) oder die subtilen Mittel, mit denen theologisch komplexe Programme ins Relief umgesetzt wurden (zum Beispiel auf den Chorkapitellen der Abteikirche von Cluny).
 
Die Möglichkeiten der Skulptur von der Mitte des 11. Jahrhunderts bis ins 12. und 13. Jahrhundert waren so vielgestaltig wie die Landschaften Europas und die Aufgabenstellungen, die sich den Bildhauern vor allem im Rahmen der Ausstattung sakraler und monastischer Bauten boten. Zahlreiche Aufträge brachten besonders die großen Bauaufgaben der kirchlichen Reform in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts mit sich, wodurch sich auch die Kompetenz und das Ansehen der - vereinzelt schon namentlich bekannten - Steinmetzen und Bildhauer steigerte. Bei aller künstlerischen, gattungsspezifischen und inhaltlichen Verschiedenheit gibt es dennoch wiedererkennbare Eigentümlichkeiten, die den Begriff »romanische Skulptur« auch heute noch rechtfertigen: eine Freude an Bewegung und Abwechslung, Spiritualität, geistige Verzückung oder offene Sinnlichkeit.
 
Allerdings ist die zeitliche und begriffliche Abgrenzung gegenüber der Skulptur der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts problematisch geworden, seitdem man die Turmvorhalle von Saint-Benôit-sur-Loire mit ihren figürlichen Kapitellen (um 1030/35) rückdatiert hat. Noch fließender erscheint die Grenzziehung zur Gotik, da diese in ihrer Entstehungszeit lediglich die lokale Spielart einer in der Romanik allgegenwärtigen Reformbewegung war, die seit etwa 1135 im Gebiet um Paris Raum griff. Erst im Verlauf des 13. Jahrhunderts wurde dann aus diesem Regionalstil eine international verstandene Formensprache. Da manche bildhauerischen Entwicklungen der Spätromanik außerhalb Nordfrankreichs - etwa im frühen 13. Jahrhundert die sächsische Skulptur oder in Oberitalien die Werkstatt des Benedetto Antelami - in ihrer Naturnähe der gotischen Skulptur gleichen, hat man sogar in jüngster Zeit den Epochenbegriff Gotik auf fast die gesamte hochmittelalterliche Skulptur und Metallkunst seit dem späten 12. Jahrhundert ausdehnen wollen. Bruchlos zu sein scheint auch der Übergang von der »Vorromanik« zu den romanischen Kruzifixen, Kreuzigungsgruppen, Kultbildern, Bildertüren oder Taufbecken in edlen Materialien, in Bronze, Holz oder Stuck, wären da nicht die ursprünglich farbig gefassten Bildwerke in Stein.
 
Die romanische Skulptur ging von den Kopfstücken der Säulen und Pfeiler, den Kapitellen, aus. Nicht selten wurden die Kapitelle, die im Frühmittelalter vereinfacht und ornamentalisiert worden waren, auf die antike korinthische Grundform zurückgeführt. Dabei erreichte man - wie am Dom zu Pisa oder am Baptisterium zu Florenz - schon vor 1100 eine Perfektion, die es fast unmöglich macht, diese Arbeiten von antiken Stücken zu unterscheiden. Zugleich wurde das Kapitell aber - in ungleich stärkerem Maße als in der Antike - zum Spielfeld gestalterischer Erfindung. Die Kapitellserien verbinden dabei seit den Anfängen romanischer Bildhauerkunst im nordspanischen und französischen 11. Jahrhundert reine Schmuckformen mit solchen, die den Kapitellkörper durch tierische, menschliche und pflanzliche Formen in überraschender Zusammensetzung und Durchschlingung be- oder ersetzen, ohne dabei die Grundstruktur der korinthisierenden Ordnung aufzugeben. Inhaltlich lassen sich die Bestienkämpfe, Rankenfresser, Bartraufer, Chimären, Sirenen, Monster, Wasserwesen, Drachen, Naturgottheiten und diabolischen Wesen als kämpferischer Gegensatz zwischen Gut und Böse fassen, als moralisierende Warnung oder als Unheil abwehrende Schreckbilder. Dieser Sinn wird aber überlagert oder konterkariert durch pure Augenlust an der Mannigfaltigkeit der Erfindung, durch das Lachen über den Verstoß gegen die Ordnung. Ohne heute erkennbare Systematik sind in die Kapitellfolgen auch einzelne Stücke eingestreut, die - zu kurzen Szenen kondensiert - Abschnitte der Heilsgeschichte erzählen und gelegentlich theologisch und typologisch miteinander verknüpfen. Solche »erzählenden Kapitelle« sind - abgesehen von vereinzelten westgotischen Vorläufern - eine Innovation und zugleich eine Leitform romanischer Kunst im Chor und Langhaus der Basiliken, an Kreuzgangsarkaden, an den Portalen und am Außenbau der Kirchen.
 
Gerade an den frühen Beispielen der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts lässt sich eine erstaunliche künstlerische Verselbstständigung des nackten oder wenig verhüllten menschlichen Körpers beobachten. Wie etwa an den Kapitellen der Kathedrale von Jaca in den Pyrenäen nachgewiesen werden kann, ist diese Faszination geprägt durch antike Vorbilder. Wohl ursprünglich gemeint als warnendes Abbild heidnischer und erotischer Dämonen, entstanden unter den Händen der Bildhauer nach der Antike kopierte Motive, die binnen kurzem zum Zitat wurden, das - frei verfügbar und hoch geschätzt - in den Bildhauerwerkstätten weiter gereicht wurde. Es ist anzunehmen, dass der ungeheure Erfolg der architektonisch gebundenen Skulptur nicht zuletzt in dieser sinnlichen Kraft begründet war: So bedeuten die Athletik und die muskelbepackte Glatthäutigkeit der Relieffiguren an der Porte Miègeville von Saint-Sernin in Toulouse (um 1110/20) bei den biblischen Gestalten Schönheit und Kraft, in den negativ besetzten Randfiguren verführerische Dämonie und Warnung.
 
Als Bildmedium gewann die romanische Skulptur erst an Portal und Fassade Größe und überwältigende Überzeugungskraft; denn hier wendet sie sich öffentlich nach außen auf einen Platz. Vielfach wurde dabei am Außenbau das Hauptthema der Apsismalerei im dauerhaften Material Stein und in der Eindrücklichkeit des dreidimensionalen Reliefs sichtbar gemacht. Von einem der wichtigsten Denkmäler in Burgund, dem Portal der dritten Abteikirche von Cluny (um 1110) künden nur noch Fragmente. Luzide Spiritualität, in der sich anrührende Lebendigkeit mit gedanklicher Abstraktion verbindet, lässt sich aber an einem der besser erhaltenen Nachfolgewerke, am Westportal der Abteikirche von Vézelay (um 1125), nachvollziehen: Dargestellt ist die Ausgießung des Heiligen Geistes im Pfingstbild, umgeben von Reliefkästen und Türsturzszenen, die Monatsarbeiten und Tierkreis mit sagenhaften heidnischen Randvölkern der Erde darstellen, welche nach antiken Berichten hundsköpfig sind oder sich in ihre Riesenohren hüllen.
 
Wie diese Kunst auf mittelalterliche Menschen gewirkt hat, weiß man nicht. Der Triumph der steinernen Reliefs, der im 12. Jahrhundert in fast allen Gegenden Europas - bemerkenswerte Ausnahmen sind die Stadt Rom und große Teile der Normandie - zu beobachten ist, deutet aber darauf hin, dass die Wirkung des neuen Bildmittels gespürt und predigthaft eingesetzt wurde. Selbst die berühmte Mahnschrift von Bernhard von Clairvaux scheint der Welt der romanischen Kapitelle keinen großen Schaden zugefügt zu haben. Viele Kreuzgänge in Südfrankreich, Spanien, Süditalien und Deutschland zeigen, dass das befremdlich-interessante Repertoire romanischer Bauskulptur selbst in den spirituell geprägten Klosterklausuren bis ins 13. Jahrhundert weiterlebte. Erst die Neubauten, die ab 1130 im französischen Königreich um Paris entstanden, reduzierten mehrheitlich den Kapitellschmuck auf einfache Blattkelche, aus denen sich dann das gotische Knospenkapitell entwickelte.
 
Prof. Dr. Peter Cornelius Claussen
 
 
Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen. Katalog der Ausstellung Hildesheim 1993, herausgegeben von Michael Brandt und Arne Eggebrecht. 2 Bände. Hildesheim u. a. 1993.
 Kubach, Hans Erich: Romanik. Neuausgabe Stuttgart 1986.
 
Die Kunst der Romanik. Architektur, Skulptur, Malerei, herausgegeben von Rolf Toman. Köln 1996.

Universal-Lexikon. 2012.

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